Die Erste seines Lebens
Ibrahim kann nicht sehen, was ich an die Tafel schreibe. Bisher war es mir nicht aufgefallen und ihm offenbar auch nicht; aber heute sitzt er in der zweiten Reihe. Sie befindet sich 3,5 Meter von der Tafel entfernt. Mein bester Schüler wirkt unsicher. Er schreibt nicht wirklich mit. Auf meine Frage hin, was los sei mit ihm, gesteht er beschämt, dass er nicht genau sehen könne, was da an der Tafel stehe. Wir setzen ihn um; jetzt hat er wieder die Nase fast an der Tafel und ist rege wie sonst. Dann beschließen wir gemeinsam, zum Optiker zu gehen. Mit einem der Fahrräder, die freundliche Bürger gestiftet haben, sind wir schnell in der Stadt. Ich bin ein wenig aufgeregt: Wie wird man behandelt, wenn man mit einem Menschen, der keine Krankenversicherung hat und nur rudimentär Deutsch spricht, in einem Laden auftaucht? Meine Unsicherheit ist unbegründet. Ich erkläre die Situation, man ist überaus freundlich, spricht mit Ibrahim auch nicht, als sei er ein Idiot. Es wird mit einem Gerät eine Vor-Refraktion gemacht. Ibrahim ist verunsichert. Er trägt, trotz der Kälte, nur eine dünne Kapuzenjacke, weiße Turnschuhe und einen alten Rucksack. Zögerlich nimmt er Platz. Alles um ihn glänzt, alles ist verspiegelt und überall sieht er sich selbst; es gibt hunderte Brillen, die an den Wänden aufgereiht sind. Die freundliche Optikerin wiegt bedenklich den Kopf, fragt dann, welche Stärke denn die vorherige Brille gehabt habe. Ibrahim sagt, er habe noch nie eine Brille gehabt. – Dann suchen wir ein Gestell aus; das Prinzip mit dem Aussuchen ist auch schwierig zu vermitteln. Er möchte gleich die erste Brille nehmen, die die Optikerin ihm reicht. Aber dann wird er mutiger und setzt weitere Modelle auf. Er findet etwas Passendes und wirkt etwas weniger verunsichert. Dann müssen wir noch zur richtigen Refraktion. Das verwundert ihn, denn eine Messung hat es doch schon gegeben. Während wir warten, erfahre ich endlich mehr über Ibrahim. Seine Eltern sind getötet worden, als er vier Jahre alt war; er ist bei seinen Großeltern aufgewachsen. Dann ist er mit seinem Bruder in den Iran gegangen, sein Bruder wurde dort verhaftet, daraufhin hat sich Ibrahim auf den Weg gemacht. Sein Ziel: Europa, Schweiz oder Holland. Nun ist er in Jena. In einer fremden Welt, so fremd, dass er das meiste hier nicht versteht.
Dann wird er aufgerufen und muss alleine klarkommen. Er versucht zu lesen, was in den drei Reihen steht, deren Zahlen oder Buchstaben immer kleiner werden. Er kann es erst, nachdem die Optikerin mehrmals die Stärken und Zylinder geändert hat. Das Ergebnis: -4 auf einem Auge, auf dem anderen kann er etwas besser sehen. Ich, die ich selbst ständig auf eine Brille angewiesen bin, frage mich, wie er eigentlich seinen Weg gefunden bis nach Europa, durch fremde Länder, auf unbekannten Wegen, mit welchem Geld. Er wirkt erleichtert, als wir aus dem Laden treten. Die Atmosphäre wird ihn doch ganz schön eingeschüchtert haben. Draußen atmet er tief durch. Er hat etwas geschafft; und nächste Woche erhält er eine SMS, wenn seine Brille fertig ist – die Erste seines Lebens.
Stichwort: HBar
Vielen Dank an den Autor!